Let’s talk about sex – vor allem in der Psychotherapie? Oder etwa nicht?
Man sollte meinen, nirgendwo sonst wird so offen über Sexualität gesprochen wie im Rahmen einer Psychotherapie. Leider ist dem nicht so. Nach meiner Erfahrung wird das Thema Sex bei vielen Sitzungen unter den Tisch gekehrt. Sowohl gegenüber dem Partner als auch gegenüber den Therapeuten spricht kaum jemand ungefragt darüber.
Gleichzeitig bringen zahlreich Patienten in Internetforen das Bedürfnis zum Ausdruck, über Sex sprechen zu wollen. Sie gehen davon aus, dass dafür Raum besteht. Schließlich ist Sexualität auch eine Form der Verständigung. Warum kommt es also so selten dazu, wenn doch eigentlich ihre Beachtung aus psychotherapeutischer Sicht sinnvoll ist?
Einerseits ist es die Angst vor Übergriffen (die leider in der Tat immer wieder stattfinden), andererseits die Sorge, zu erotisieren. Das Sprechen über Sexualität ist schambesetzt, allein es zu tun kann bereits als Übergriff interpretiert werden. Möglicherweise hat auch der Therapeut Angst vor der Berührung. Man fasst sich schließlich verbal an.
Warum überhaupt über Sex reden?
Die Notwendigkeit besteht. Sexualkonflikte in der Kindheit verursachen Störungen in den Entwicklungsvorgängen, die der Mensch durchlebt. Nicht umsonst beschäftigte sich Freud sein ganzes Leben mit der Sexualität. Sie erfüllt psychosoziale Grundbedürfnisse wie Aufmerksamkeit, Zuneigung oder das Gefühl, begehrt zu werden.
Oft erinnert sich der Patient nicht mehr an die Ereignisse aus der Kindheit, die seine sexuelle Performance heute prägen. Sie verrät mehr über ihn als jedes Gespräch. Er schreibt erlebte Geschichte in seinen Fantasien fort. Im szenischen Durchspielen mutiert die Angst zur Lust, die Not zum Triumpf. Unbewusst versucht er, die Kontrolle über die Situationen zu erlangen, in denen er damals unterlegen war.
Geschichte wiederholt sich – vor allem in der Sexualität.
Bereits im Säuglingsalter nimmt unsere menschliche Umwelt Einfluss auf unser Sexualleben. Während der Kindheit werden uns erotische und stimulierende Bedürfnisse abtrainiert, wie z.B. das Schnullern. Erfahren wir in dieser Zeit körperliche oder psychische Gewalt, verkehrt diese sich im Erwachsenenleben zu Lust. Die Erfahrung von Liebe ist den wenigsten gegeben.
Auch wenn die physische Misshandlung mittlerweile glücklicherweise seltener vorkommt, drücken die Eltern auf andere Art und Weise dem Nachwuchs einen Stempel auf. Kinder werden narzisstisch überbesetzt. Bei dem aussichtslosen Versuch, den Vorstellungen ihrer Eltern gerecht zu werden, erleben sie Qual statt Lust, was zu einer ständigen Lustsuche anstelle von Anstrengung in ihrem späteren Leben führt. Schneller Erregungssex ohne Blickkontakt gehört zum Zeitalter von YouTube. Die Jugend übt sich in Porno-Posing, während die meisten Liebes-, Sexual- oder Bindungswünsche unerfüllt bleiben.
Das Spektrum der Störungen
Sexualität ist leiblich und daher Bestandteil der Psychosomatischen Medizin. Das Spektrum der Erkrankungen und Störungen infolge ihrer Tabuisierung ist breit. Es reicht von Angst, Depressionen über somatoforme Störungen bis hin zu Schmerzsyndromen. Eine Aversion gegenüber Sex, Lustlosigkeit und Erektionsstörungen sind genauso Ausdruck unterbewussten Leids wie Panik und Schlaflosigkeit. Schlafstörungen sind Beischlafstörungen, soll Freud gesagt haben.
Reden Sie mit Ihrem Partner, aber noch viel mehr mit Ihrem Therapeuten
Das Gespräch zwischen den Partnern allein löst die Probleme nicht allein. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Miteinander reden hilft selbstverständlich dabei, eine glückliche Beziehung aufzubauen und zu bewahren. Doch es will gelernt sein, darüber zu sprechen. Die Furcht vor sexuellen Inkompatibilitäten ist groß und daher schambehaftet. Bevor man sagt, was man wirklich will, sagt man lieber nichts.
Aber sei die Paarkommunikation auch noch so gut, sie löst keine sexuellen Probleme. Sexuelle Funktionsstörungen sind keine Paarkommunikationsstörungen, sondern sexuelle Kommunikationsstörungen. Kurz gesagt: Bessere Beziehung ist nicht gleich besserer Sex.
Beide Seiten profitieren davon
Freud sagte einmal, man kann eine Hungersnot nicht mit Speisekarten besiegen. Geschlechtsorgane sind Sinnes- und Kommunikationsorgane. Die Partnerwahl wird aus individuellen Erfahrungs- und Bindungsmustern heraus gesteuert. Sexualität steigert das Selbstwertgefühl, stärkt das ich. Unsere Gesellschaft profitiert davon, wenn mehr Menschen in sexueller Hinsicht „gesund“ sind. Ich bin davon überzeugt, es gäbe weniger Gewaltkriminalität, wenn dem so wäre.
Will man das Leiden verstehen, muss man das Unbewusste bewusst machen. Das Gespräch kann ratgebend, anleitend und psychoaducativ sein. Es hilft dem Therapeuten viel mehr als viele andere Themen, seiner Aufgaben nachzukommen, den Patienten zu verstehen. Dazu gehören ein paar Leitsätze, die ein Psychotherapeut befolgen sollte.
Vermieden werden sollten Krankheitsbegriffe wie gesund oder krank, gestört oder pervers. Um Blockaden abzubauen, empfiehlt es sich, am Anfang nach Lust und Liebe anstatt nach der Sexualität zu fragen. Das heißt nicht, dass man die Fragen im späteren Verlauf nicht konkretisieren sollte: Was waren die schönsten oder schlimmsten sexuellen Erlebnisse? Ist die Vorstellung, die man in der Kindheit von Sex hatte, in Erfüllung gegangen?
In meinem Seminar „Sex undercover – Das Unausgesprochene in psychotherapeutischen Behandlungen“ gehe ich detailliert auf die verschiedenartigen Krankheitsbilder und Störungen ein, die Folge einer Tabuisierung der Sexualität oder prägender Erfahrungen in der Kindheit sind. Zudem beschäftige ich mich intensiv mit der Frage, wie der Psychotherapeut das Thema Sexualität während der Sitzungen zur Sprache bringen sollte.