Geschwister – Zwischen Rivalität und Liebe
In diesem Beitrag geht es um die besondere Art der Beziehung zwischen Geschwistern. Meist fokussieren sich psychologische Untersuchungen auf die vertikale Richtung, sprich das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Doch auch die horizontale Ebene hat entscheidenden Einfluss auf unser Leben. Ob Kollegen, Freundschaften oder in der Liebe – oft sind die Beziehungen zu anderen Menschen Abbilder der erlebten Geschwisterbeziehungen.
Bei Geschwistern treffen zeitgleich positive wie negative Gefühle aufeinander. Liebe und Zuneigung gehen einher mit Hass und Ablehnung. Ständig suchen Bruder und Schwester nach Gleichwertigkeit. Die unerfüllte, strapazierte Ursehnsucht führt zu Enttäuschung und Frust. Mißgunst, Eifersucht und Neid sind die Folge des Verlusts des Zusammengehörigkeitsgefühls.
Zeit ihres Lebens setzen Geschwister auf die wechselseitige Unterstützung. Ihr Verhältnis beruht auf unübertroffener Intimität. Gelingen Geschwisterbeziehungen, führt dies zu größtmöglichem Vertrauen. Doch ist man in der Not wirklich bedingungslos füreinander da?
Die Realität sieht oft anders aus. Gerade beim Thema Nachlass bekommen Geschwister schwarz auf weiß serviert, wer geliebt wird und wer nicht. Die Mitgift vergiftet das Verhältnis. Ist Blut tatsächlich dicker als Wasser? Was ist gesunde Rivalität und wo fängt das gegenseitige Bekämpfen an? Um die Beziehungen zwischen Geschwistern zu verstehen, muss man bei den Voraussetzungen beginnen, die sie Vorfinden.
Jedes Kind erlebt es anders – die unterschiedliche Wahrnehmung der Familiensituation
Jedes Geschwister erlebt eine andere Familie. Das liegt daran, dass jedes Kind anders von seinen Eltern behandelt wird und jedes Kind eine andere Konstellation vorfindet. Beispielsweise haben Eltern beim zweiten Kind mehr Routine in der Organisation des Familienlebens. Die Betreuung und die finanzielle Situation stehen auf einem sicheren Fundament. Auch die Großeltern nehmen eine andere Rolle ein, je nach Gesundheitszustand.
Der amerikanische Psychologe Frank J. Sulloway untersuchte über 6.500 Lebensläufe. Dabei stellte er fest, dass Erstgeborene in ihrem Leben meist konservativer agieren, die Letztgeborenen hingegen rebellischer. Während der Erstgeborene versucht, das Gerüst und den Zusammenhalt in der Familie aufrecht zu erhalten, tanzen die Jüngeren oft aus der Reihe.
Hauptsache geliebt werden – die Nischenbildung
Nicht immer sind Geschwister unterschiedlich wie Tag und Nacht. Fest steht allerdings, dass sie sich in der Regel eine Nische suchen. Eigentlich sind Geschwister in ihrem Zusammenleben nicht anders als einander fremde Kinder, die in gleichartiger Umgebung aufwachsen. Auch Zwillinge, die in unterschiedlichen Familien leben, entwickeln eher ähnliche Charakterzüge, da die ihnen die Abgrenzung fehlt.
Denn Geschwister versuchen immer, sich zugleich sich voneinander abzuheben und sich ähnlich zu sein. Ist eine Position bereits besetzt, so sucht sich das Kind die andere. So kommen die klassischen Konstellationen wie z. B. aus einem introvertierten und einem extrovertierten Geschwisterteil zustande.
Der Grund für diese De-Identifikation (Schachter) ist der Umstand, dass darin die beste Chance liegt, auf sich aufmerksam zu machen. Sich zu von anderen zu unterscheiden bietet schlichtweg die besseren Überlebensmöglichkeiten. Dabei gilt: Lieber negativ auffallen, als gar keine Aufmerksamkeit zu erhalten.
Der Einfluss der Eltern – Rollenmodelle und Konventionen
Auch Eltern haben Anteil an der Entwicklung der Nischen. Sie bieten Rollen an, in die die Kinder bereitwillig hineinschlüpfen. Um geliebt zu werden, nimmt der Nachwuchs ihre Projektionen an. Das dient auch dazu, die Eltern zu entlasten. In manchen Fällen übertragen sie ihre eigenen Geschwistererfahrungen auf die Kinder. Entsprechend wird der Sohn zum geliebten Bruder, die Tochter zur verhassten Schwester.
Zudem kommt, dass Eltern auch in unserer heutigen Gesellschaft weiterhin rollenspezifische Einordnungen vornehmen. Die veralteten Konventionen führen oft zu Rivalität und Abgrenzung. Berühmtes Beispiel hierfür ist das in die Brüche gegangene Verhältnis der gleichermaßen talentierten Johann Wolfgang und Cornelia von Goethe. Letztere stürzte die Hausfrauenrolle ins Unglück und sie verstarb früh.
Bei gleichgeschlechtlichen Geschwistern gibt es typische Folgeerscheinungen. Brüder liegen im Wettstreit um mehr beruflichen Erfolg und Anerkennung, Schwestern kämpfen darum, die Schönere zu sein. Der Wettstreit macht auch vor bekannten Persönlichkeiten nicht halt. Die Brüder Thomas und Heinrich Mann, die sich in ihren Anfangsjahren geistig befruchteten, brachten in späteren Jahre ihre tiefe Mißachtung gegenüber dem anderen zum Ausdruck.
Mein Fazit – Geschwisterbeziehungen prägen uns für das ganze Leben
Geschwisterbeziehungen spiegeln sich auch in der Medienlandschaft wider. Sendungen wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s next Topmodel“ inszenieren die Geschwisterrivalität. Die Teilnehmer„liefern ab“, ein wenig Anerkennung wird mit Zuneigung verwechselt.
Meine Meinung nach ist die Prägung, die Geschwister durch einander erfahren, ebenso stark ist wie die durch die Eltern. Die Beziehung zu unseren Brüdern und Schwestern nimmt Einfluss auf unsere Weltsicht, unsere Berufs- und Partnerwahl sowie unser Verhalten in Gruppen und Führungspositionen. Die Wissenschaft verdrängt oft die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen, wenn es darum geht, unser Zusammenspiel mit anderen Menschen zu beurteilen.
Außerdem vernachlässigen Psychotherapieschulen den Aspekt, dass neben der Rivalität auch die Liebe zwischen den Geschwistern exisitiert. Das jeder Gedanke aus der Gruppe erwächst, wird konsequent verleugnet. Nach Horst Petri ist die Geschwisterliebe etwas Autonomes, Ursprüngliches, und mündet bei gleichberechtigter Behandlung durch die Eltern in einer tiefen Dankbarkeit, trotz aller Unterschiede.
In meinem Vortrag „Geschwister – verbunden wie Pech und Schwefel und explosiv wie Nitro und Glycerin“ befasse ich mich ausführlich mit dem Thema Geschwisterbeziehungen. Ich würde mich freuen, Sie auf einer meiner Veranstaltungen begrüßen zu dürfen.